Architektur zum Riechen

 
Foto: Sabrina Rossetto

Foto: Sabrina Rossetto

Eine Freundin, die in Folge einer Corona-Erkrankung den Geruchssinn verloren hatte, berichtet mir, wie es ist, in einer geruchslosen Welt zu leben: Man fühlt sich völlig haltlos, als ob man sich in einer gläsernen Glocke bewegen würde ….

Es sieht so aus,  als spielte der Geruchssinn eine entscheidende Rolle bei der Bildung des Koordinatensystems unseres Lebensraums – oder besser gesagt bei der emotionalen Erfassung unserer Welt. Und wer kennt das nicht: den vertrauten Geruch unseres Zuhauses? Der unerwartete Duft, der uns von unserem Ziel abbringt? Der bedrückende Geruch eines Krankenhausflurs? Das Fernweh, das uns plötzlich erwischt bei der Begegnung mit einem exotischen Duft?

Gerüche kommunizieren unmittelbar und scheinbar kongruenter als visuelle Eindrücke. Sie können bestätigen, was wir sehen oder vollkommen widersprechen – und uns so Gefahren, Möglichkeiten oder Irrwege signalisieren. Aber sie vermitteln auch genauso Informationen, die unser unbewusstes Verhalten steuern, da sie eng mit Emotionen verknüpft sind.

Das lässt sich physiologisch begründen, da die Nase das einzige Sinnesorgan ist, das seine Impulse direkt ins Gehirn leitet, ohne dass andere Nervenzellen zwischengeschaltet sind. Von hier aus führt einer der Informationswege direkt ins Limbische System, das für die Verarbeitung von Emotionen und die Entstehung von Triebverhalten zuständig ist. Eintreffende Duftinformationen werden also unmittelbar in Gefühle übersetzt und je nach Geruch kann das Freude, Angst, Ekel oder Wohlbehagen sein. Dies geschieht unkontrolliert, ohne dass wir die Wirkung von Düften beeinflussen könnten – denn wenn wir den Duft riechen können, hat er bereits etwas in uns bewirkt. Das wusste man bereits, als die Engländer während des Zweiten Weltkrieges die Luftschutzbunker mit Lavendelduft durchströmen ließen, um die Schutz suchende Bevölkerung zu beruhigen.

Parallel zu dieser unterbewussten Verarbeitung der Informationen dringen die Düfte auch in unser Bewusstsein vor: in die höheren und entwicklungsgeschichtlich jüngeren Gehirnzentren, wo der Duft als bewusster Geruchseindruck identifiziert wird. Anhand der Erfahrungen, die wir mit diesem Geruch gemacht haben, entscheidet sich, ob wir einen Duft mögen oder nicht.

Von Düften geht also eine unsichtbare Macht aus, wie die Hauptfigur von Patrick Süßkinds Roman „Das Parfüm“ eindrücklich erkennt, indem sie sich auf die Suche nach dem perfekten Duft begibt, um Macht über ihre Mitmenschen zu erlangen. Wie das heutzutage geht, zeigen auf eine ziemlich skurrile Weise Marketing-Agenturen, die maßgeschneiderte Duftdesigns als Strategien einsetzen, um die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu steuern und somit „das Interesse an Produkten, die Kauflust und die Umsätze“ zu steigern.

Das betrifft nicht nur Gegenstände, sondern mittlerweile auch die Raumplanung, wo Dufte absichtlich eingesetzt werden, um prägende Raumerlebnisse zu kreieren. Eine Strategie, die auf die Erkenntnis setzt, dass die Identität eines Ortes nicht nur visuell erlebt wird, sondern in erster Linie olfaktorisch, und dass genau diese Wechselwirkung von visuellen und olfaktorischen Reizen die Raumerfahrung bestimmen. Viele Hotelketten und Resorts lassen mittlerweile ihren eigenen Duft entwerfen, dem natürliche Gerüche der umgebenden Natur beigemischt werden, um gezielt positive Erinnerungen an den Urlaub olfaktorisch aufzuladen und somit ein unvergessliches Erlebnis in den Köpfen der Besucher zu erzeugen. Die sichtbare Architektur wird also mit einer zweiten, unsichtbaren Duftlandschaft imprägniert, die eine rein emotionale Qualität besitzt.  

Aber wie steht es genau mit dem Geruchssinn und der Architektur? Die Geschichte der Moderne scheint eher eine Geschichte der Verdrängung des Riechens. Gerüche hatten in der Architektur des 20. Jahrhunderts eine negative Konnotation. Die Idee von Luft und Licht für Alle war das Motto der Architekten dieser Zeit, die in erster Linie damit beschäftigt waren, das Ausmaß der unhygienischen Verhältnisse der modernen Städte und die Verbreitung von TBC einzuschränken. Räume wurden trockengelegt, Oberflächen unempfindlich gemacht, Häuser der Sonne zugewandt und Formen rationalisiert. Die Architektur verlor ihr olfaktorisches Gedächtnis und in gewisser Weise auch ihre manipulatorische Dimension.

Dass es nicht immer so war, zeigt die Symbiose zwischen Sakralarchitektur und dem liturgischen Einsatz von Weihrauch, der in den verschiedenen Kulturkreisen und Epochen die transzendentale Erfahrung prägt und zu einer sensorisch erlebbaren Erfahrung verhilft. Aber auch in der autochthonen Architektur spielen Gerüche eine wesentliche Rolle: Ihre sinnliche Identität geht besonders aus dem Duft der verbauten einheimischen Materialien hervor, der sich in ein olfaktorisches Kontinuum einfügt, das die natürliche mit der kulturellen Landschaft verbindet. In einige Architekturtraditionen war der Einsatz von Düften sogar Bestandteil einer bewussten Baupraxis – etwa in der arabischen Architektur, wo Essenzen etwa Putz und Streichfarben beigemischt wurden, damit diese unter Einwirkung der Sonne Innen- wie Außenräume mit Duft erfüllen.

Nach Jahrzehnten einer „olfaktorischen Zensur“ scheint das Riechen wieder in den Fokus der Architekten geraten zu sein. Erneut motiviert von Aspekten der Raumhygiene, diesmal bezogen auf die Gefahren, die in der Architektur selbst lauern: Giftstoffe, VOC-Partikel oder Schadstoffe, die von künstlichen Materialien ausgehen, stellen angesichts der extrem langen Zeit, die wir in Innenräumen verbringen (80 – 90 %), ein nicht zu unterschätzendes Risiko für unsere Gesundheit dar.

Aber auch die psychologische Dimension des Riechens in ihren räumlichen Implikationen rückt immer stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung. „In einer Studie, die im Jahr 2007 von IKEA beauftragt wurde, wurden 12.000 Menschen in zwölf Städten auf der ganzen Welt dazu befragt, was ihr Zuhause ausmacht. Überraschenderweise bestimmten die meisten Befragten ihre Wohnung über den Duft, nämlich 40 Prozent, weit vor Licht (30 Prozent), taktilen Eindrücken (22 Prozent), Geräuschen (19 Prozent).“ (Quelle: IKEA Life at Home Report)

Andererseits wird das Interesse für die engen Zusammenhänge zwischen Geruchssinn und Raumerlebnis auch durch neue Erkenntnisse der Neuroarchitektur stimuliert, die seit einigen Jahren die Mechanismen durchleuchten, auf denen unsere räumliche Wahrnehmung basiert. Architekten wie Steven Hall, Peter Zumthor, Juhani Pallasmaa propagieren seit Jahren einen Begriff der Architektur, der fern vom visuellen Diktat sich in Richtung einer synästhetischen Erfahrung bewegt. Besonders in Zumthor-Bauten besitzen Materialen eine tiefe poetische Dimension und Gerüche wirken wie eine Art Emanation der Architektur selbst. Wie Zumthor selbst es ausdrückt: “Gerüche sind Ingredienzen, die eine architektonische Sprache immer einschließen soll.

Dieser Gedanke ist meisterhaft versinnbildlicht in seiner Bruder-Klaus-Kapelle, wo Gerüche in der Architektur eine narrative Funktion übernehmen: „Die Kapelle ist mit Materialen gemacht hier aus der Region und mit Holz und mit Weißzement. Man hat die ja auch ausgebrannt. Das waren ja auch Holzstämme, die da ausgeköhlert wurden, und als man damals da reinkam, da roch es nach Feuer. Das kann man sich vorstellen: Der Einsiedler, der am Feuer gesessen hat, der muss auch so gerochen haben.“

Auch Pallasmaa schafft Orte, an denen Gerüche genauso wichtig sind wie das Sehen – etwa in dem Holzhaus auf einer Insel im Archipel von Turkue oder in den Museumsräumen in Rovaniemi. Ein Gedankengut, das vor ihm die Architektur von Alvar Aalto signifikant bestimmt hat. Für Alvar Aalto war Architektur nicht eine Form von reiner Abstraktion, sondern eine Atmosphäre, die aus Licht, Klängen und Gerüchen besteht: Viele seiner Bauwerke, die ich in Finnland besucht habe, riechen unvergesslich nach den Birken und Kiefern der finnischen Wälder.   

Der Geruchssinn offenbart also die wahre Natur eines Ortes. Wenn man ihm folgt, muss man Grenzen überwinden und die Verbindung zwischen Innen- und Außenräumen, zwischen Mensch und Architektur, zwischen Materie und Geist stärken. Kurz gesagt: Die olfaktorische Dimension ist nicht nur ein kosmetischer sensorischer Eingriff, der eine Architektur überzeichnet, sondern der immaterielle Ausdruck ihrer Sprache. Die leiseste und unerhörte.