Architektur als Wandlungskunst

 
Foto: Tim Mosshoder-Unsplash

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Eine der grundlegenden Strategien nachhaltiger Planung ist bekanntlich die Flexibilität. Hinsichtlich des überdimensionierten und kostenintensiven Flächenverbrauchs (ökologisch sowie ökonomisch), den die Bauindustrie jährlich verschuldet, ist Flexibilität ein wichtiges Kriterium, um die Umnutzung von Neubauten und Bestandsbauten zukünftig zu sichern. Planen bedeutet heute in erster Linie zukünftige Szenerien zu identifizieren und damit die Resilienz des bebauten Raumes zu gestalten, d. h. seine Fähigkeit, soziale, klimatische und ökonomische Veränderungen effektiv zu absorbieren.

Die Krisen der letzten Jahre – von der Flüchtlingskrise bis zur Corona-Krise – haben die traditionell typologische und funktionsbedingte Identität des bebauten Raumes grundlegend in Frage gestellt. In kurzer Zeit wurden plötzlich notgedrungen aus ungenutzten Einkaufshäusern oder Flughafenhallen Wohnunterkünfte, aus Messehallen Krankenhäuser. In beiden Fällen ging es um eine eher improvisierte Antwort aus einer Notsituation heraus, die aber gezeigt hat, wie ungenutzte Fläche – in vielen Fälle bereits zum Abbruch verurteilt – in der Tat genau die räumliche Ressourcen bildete, mit denen die Krise bewältigt werden konnte. Aus dieser Perspektive ist Flexibilität nicht nur die Wandlungsgabe einer räumlichen Struktur in Bezug auf absehbare geänderte Nutzungsbedingungen, sondern eine für die Herausforderung unserer Gesellschaft lebensnotwendige Qualität, die die Architektur besitzen sollte. Gefragt ist eine Eigenschaft, die eigentlich der Architektur per Definition fremd ist – und zwar ihr flüssiger Charakter: die Fähigkeit sich auszudehnen, zu schrumpfen, sich anzupassen und das in sehr kurzer Zeit, teilweise auf unvorhersehbare Ereignisse reagierend.

Diese Praxis der räumlichen Adaption hat sich in den letzten Jahren im Bereich der temporären Nutzungen bewahrt. Bestandsgebäude unabhängig von Ihrer Bestimmung wurden dabei eher als neutrale Hülle betrachtet, die durch mobile Elemente an die zeitlich bestimmten Bedürfnisse abwechselnder Nutzer angepasst werden können. Aber auch in der Planungspraxis von Neubauten – etwa Wohnhäusern, Kinobauten, Bürobauten – scheint diese Praxis der Adaption ein wichtiger methodischer Ansatz geworden zu sein. Wohnungen werden z. B. von vornherein als eine organische Struktur konzipiert, die mittels flexibler Raumbegrenzungen wie Schiebe- oder Faltwände oder flexibler Möblierungen wächst und schrumpft, den unterschiedlichen Lebensumständen und Haushaltskonstellationen ihrer Bewohner folgend.

Wie wichtig diese Adaptive Skills der Architektur mittlerweile geworden sind, zeigt sich in der gegenwärtigen Corona-Krise, wo das Remote-Working und -Learning den privaten Wohnraum oft an die Grenze seiner Belastbarkeit bringt. Die Zukunftsszenarien des Arbeitens und Wohnens, aber auch des Lernens und der Freizeit,  werden zwangsläufig neue Modelle der Raumnutzung mit sich bringen, die eine Austauschbarkeit bzw. Synergie der Orte stimuliert. Wohnhäuser könnten zukünftig z. B. separate Räume für das Homeoffice oder Homeschooling anbieten – Bürobauten im Gegenzug Entspannungs- bzw. Wohnmöglichkeiten für intensive Arbeitsphasen. Kinos, Schwimmbäder und Theaterbauten könnten sich anbieten als Räume für temporäre Zwischennutzungen.

Wie in fast allen  Bereichen unseres sozialen Lebens hat die Corona-Krise wie eine Art Beschleuniger gewirkt, der uns in kurzer Zeit gezeigt hat, wie unsere Zukunft aussehen kann: mit neuen Potentialen, aber auch Problematiken. Was unsere Haltung als Planende ausmacht, ist ein neues Bewusstsein, entstanden aus den neuen sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch hier gilt die Frage: Wie wollen wir leben? – Und nicht: Wie werden wir gelebt?